Sicht der Dinge

Für Elke Fischer

 

Prolog: Der Fehler war, dass man dem verdammten Stück Software nicht nur beigebracht hatte, was es alles selbständig neuronal simulieren sollte, sondern auch noch, wie es sich dabei am besten selbst verbessern konnte. Die Trottel von der Softwarefirma hatten auch keine bessere Idee gehabt, als ihr kleines Programm im eigenen Firmennetzwerk zu testen. Und natürlich hatte die Sekretärin heimlich Musikstücke und Pornofilmchen in verschiedenen Netzbörsen getauscht, und so nahm die ganze Geschichte ihren Anfang...

 

I

ch kann mich noch gut an den Abend erinnern, als es ernst wurde. Als ein völlig verzweifelter Unternehmenschef vor den Fernsehaugen der Welt um Vergebung stammelte. Es waren einige der letzten Fernsehbilder überhaupt, denn bald danach wurde  auch diese Spielerei der Neuzeit von den Netzen vereinnahmt.

 Doch der Reihe nach: Ich selbst wohnte damals in einem kleinen Vorort von L. und eigentlich war es mein Plan, eine dieser steilen Karrieren hinzulegen. Ich war Banker von Beruf, hatte mir eine schnittige Frau genommen und war auf dem besten Weg, meine Ziele von einer Bilderbuchkarriere zu erreichen.

 Heute lebe ich in Norwegen. Im Wald. Ich habe mich – wie neben mir noch viele weitere Tausende Menschen - dazu entschieden, in dieser Gegend zu bleiben, weil es hier noch genügend Holz gibt, das man zur Energiegewinnung verheizen kann. Ich wohne alleine, mein Frauchen wollte L. nicht verlassen. Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört. Wie auch? Die Funknetze wurden alle vollständig assimiliert (damit haben diese virtuellen Schwerverbrecher und Mörder die Kommunikation untereinander verbessert!), Telefon- und Datenleitungen ebenfalls. In den alten Städten kann man sowieso nicht mehr leben, nichts funktioniert mehr, und die Ordnungskräfte haben ihren Kampf gegen die Gesetzlosigkeit schon längst verloren. Ein Nachbar, der ursprünglich mal im alten Deutschland gewohnt hat, hat mir kürzlich zwar erzählt, dass er und ein paar weitere eine Art rudimentäres Postsystem aufbauen wollen, aber ich persönlich halte das für einen ganz großen Schwachsinn. Hier gibt es keinen Kevin Costner und keine anderen Helden. Hier gibt es nur Leute, die irgendwie überleben wollen.

 

I

ch erinnere mich auch noch genau, wie alles anfing: Ich wollte Geld abheben, um meiner Frau eine kleine Schweinerei zu kaufen. Ich ging in Richtung Oxford Street und dort in die First National Bank. Gleich nebenan gab es damals einen teuren Erotik-Laden, in dem ich ganz bestimmt fündig werden würde. An allen Geldautomaten hing ein Schild: Außer Betrieb. Wütende Passanten und aufgeregte Bankangestellte lieferten sich heftige Wortgefechte. Ich wunderte mich noch um das große Aufsehen. Ich selbst nahm das alles gelassen. Ich ging einfach zur nächsten Filiale, doch dort bot sich mir das gleiche Bild. Ich hörte einem Pärchen zu, das sich aufgeregt unterhielt. Er erzählte ihr, dass er gehört habe, dass die Geldautomaten im ganzen Land ausgefallen wären und es bis auf weiteres nur Bargeld an den Schaltern geben würde. Ich dachte mir, dass ich dann eben einfach mit meiner Kreditkarte bezahlen würde und verließ auch diese Bank.

 Warten sie, ich muss eben noch etwas Feuerholz nachlegen und auch noch schauen, ob ich die Türe ordentlich verriegelt habe. Es wird bald dunkel, und ich möchte auch diese Nacht heil überstehen. Nicht jeder hier ist einem in diesen Zeiten friedlich gesonnen. Doch ich will Ihnen keinen Schrecken einjagen. Noch brauchen Sie nicht alles zu wissen.

 Jedenfalls bin ich dann in den entsprechenden Laden gegangen und habe auch bald ein ansprechendes Dessous gefunden. Doch die Kassiererin teilte mir mit, dass meine Kreditkarten vom System leider nicht akzeptiert werden würden. Selbst meine nagelneue Mastercard war gesperrt. Wütend machte ich mich auf den Nachhauseweg. Unterwegs wollte ich meine Frau anrufen, um sie zu fragen, ob ich etwas zu Essen mitbringen solle, doch ihr Anschluss war dauernd besetzt. Dass dies den totalen Zusammenbruch des Telefonsystems vorwegnehmen sollte, konnte ich damals noch nicht ahnen, meine Frau telefonierte im Allgemeinen sehr gerne, und so beunruhigte mich das Besetztzeichen im ersten Moment nicht allzu sehr.

 In den Abendnachrichten brachten sie dann die Meldung, dass der komplette bargeldlose Zahlungs-verkehr im Land ausgefallen war und dass alle Beteiligten fieberhaft nach Ursachen und Lösungen suchten. Es wurde gemahnt, Ruhe zu bewahren und in den nächsten Tagen bei Bargeldbedarf zur eigenen Hausbank zu gehen. Deutlich mehr beunruhigte mich die Zusatzmeldung, dass auch Deutschland, Spanien, Frankreich, Ungarn und die Schweiz erhebliche Probleme mit ihrem Bargeld-Clearing meldeten. Oh Mann, hätte ich damals schon gewusst, was auf uns zukommt, ich hätte sofort meine sämtliche Konten geplündert und in Vorräte, Waffen und Munition angelegt. Aber ich war, wie die meisten anderen Menschen auch, so blöde und habe den Beteuerungen der öffentlichen Stellen glauben geschenkt. So lange, bis es schließlich zu spät war. Wenige Tage später schließlich konnten die Konten nicht mehr eindeutig den Besitzern zugeordnet werden, weil die dafür benötigte Rechenleistung von den Netzen ebenfalls vereinnahmt worden war. Das wussten wir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Ein Umstellen des gesamten Zahlungsverkehrs auf vorcomputerisierte Arbeitsabläufe war in der kurzen Zeit und angesichts der immens hohen Transaktionsvolumina schlicht unmöglich. Das elektronische Geldsystem brach zu diesem Zeitpunkt Schritt für Schritt (und Land für Land) zusammen. Meine Frau hat nur noch wie am Spieß geheult, weil sie ihre (oder besser: meine) Millionen fortschwimmen sah und damit ihren Traum vom Leben als Luxuszicke und Millionärsgattin.

Warten Sie, ich schenke ihnen noch ein Glas frisch abgekochtes Wasser ein. Wenn Sie Hunger haben, dann können Sie in der Zwischenzeit auf einem Stück Birkenholz kauen. Das gibt einen süßen Saft und beruhigt den Magen. Später kann ich ihnen mit etwas Glück frisches Brot servieren, je nachdem, ob mein Nachbar später vorbeikommt und das Mehl, das er mir mitbringen sollte, auf dem Tausch bekommen hat. Der Tausch? Das ist eine Art Markt hier in der Nähe, zu dem die Überlebenden jeden Tag pilgern, manche von über 50 km Entfernung her. Hier wird alles getauscht: Holz gegen Kartoffeln, Wasser gegen Munition und Brot gegen Liebe.

 

W

o war ich stehengeblieben? Ach ja, mein Millionärsleben. Jedenfalls ging danach alles ganz schnell. Innerhalb einer einzigen Woche das totale Chaos. Nicht nur, dass alle Kommunikationssysteme zusammenbrachen und die Menschen von jetzt auf hier auf sich selbst gestellt waren. Das eigentlich Beunruhigende war die Angst und das Ungewissen, wem man das alles zu verdanken hatte. Wir haben uns alle in die Hosen gemacht, weil wir dachten, dass uns bald irgendwelche aberwitzigen Roboterarmeen oder Außerirdische töten oder zumindest versklaven würden. Doch das ist natürlich nicht passiert. Trotzdem gelang es unseren Heerscharen aus Kriegern und Technikern nicht, der Situation Herr zu werden. Das eigentlich Lächerliche dabei ist, dass wir Menschen auch noch selbst die Infrastrukturen für unsere Vernichtung mit unserem Wohlstand geschaffen haben. Kurz bevor alles losging konnte man ja sogar noch im Senegal per Handy telefonieren. Ein Wahnsinn. Kein Wunder, dass die Assimilation nicht nur so schnell, sondern auch so gründlich geschehen konnte. Wir hatten halt vergessen, dass das ganze Wissen um den Schutz von Infrastrukturen und Daten aller Art ebenfalls in den Netzen dieser Welt gespeichert war. Im Nachhinein wundert es mich gar nicht mehr, dass die Netze irgendwann einen evolutionären Vorteil darin erkannten, ebenjenes Wissen gezielt anzuzapfen.

Doch genug von dieser Gefühlsduselei. Ich wollte ja erzählen, wie es weiter bergab ging: Nach ein paar Tagen hatten alle vernünftigen Menschen (also alle außer meiner Frau und ein paar Spinnern) begriffen, dass es das Beste sei, auf sich selbst aufzupassen. Ich lud mein Auto bis unter die Decke voll mit allem möglichen Kram, der mir damals noch wichtig schien. So bepackt, schlug ich mich in die Vororte der Stadt, einen ersten groben Plan einer Flucht im Kopf. Ich schloss mich einer Horde seltsamer Menschen an, die gerade im Begriff waren, einen Supermarkt zu plündern. Aber was hätte ich bitteschön anderes tun können? Meine Premiere als Verbrecher verging jedenfalls glimpflich, was wohl auch an der Tatsache lag, dass es damals ziemlich viele solcher Premieren gab.

 Mein Plan bestand in groben Zügen darin, sich eine Ecke zu suchen, in der ich notfalls auch mit den Mitteln der Natur überleben konnte. Eigentlich wollte ich irgendwo hin, wo es warm war und wo es viel Holz gab – das konnte ich als Energiegewinnung verheizen. Das mit dem Wald habe ich wohl hinbekommen, das mit der Wärme nicht.

 Ich glaube, das mit dem Brot wird heute nichts mehr, mein Nachbar müsste längst vom Tausch zurück sein. Eigentlich ist er ein sehr zuverlässiger Mensch – eine Ausnahme in diesen Zeiten. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen! Vielleicht ist er unterwegs auch nur aufgehalten worden und dann direkt in seine eigene Hütte zurückgekehrt, es wird ja langsam auch schon dunkel. Wie dem auch sei, ich fürchte, Sie müssen sich wohl mit der Birke und dem Wasser begnügen. Vielleicht haben wir morgen etwas mehr Glück. Aber ich komme wieder vom Thema ab.

 

J

edenfalls wollte ich nach Südengland, dort irgendwie über den Kanal übersetzen, und dann nach Frankreich oder so. Für die Fahrt an die Küste habe ich geschlagene drei Tage gebraucht. Und ich musste mich mehr als einmal mit Händen und Füßen (und mit einem selbstgebastelten Schlagstock) verteidigen, als Leute versuchten, mir mein Auto samt Inhalt abspenstig zu machen. Ja, es wurde richtig ungemütlich zu dieser Zeit, und wir alle hatten etwas von dieser Untergangsstimmung, die man sonst nur aus miesen Hollywoodschinken kennt. Irgendwie glaube ich heute, dass die Leute alle diese Filme gesehen hatten, denn sie verhielten sich genauso wie es die meisten Regisseure in ihren dämlichen Kleinhirnen prognostiziert hatten.

 Ich kam dann irgendwann an ein kleines Örtchen in der Nähe von D., und - ich kam keine Sekunde zu spät: Ein paar Jungs hatten einen größeren Fischtrawler klargemacht (wie genau, möchte ich gar nicht wissen) und boten mir einen Platz im Tausch gegen mein Auto und meine Arbeitskraft an. Es sollte nach Frankreich gehen, irgendwie. Ich schlug in den Deal ein, nahm Abschied von den meisten meiner Sachen und bestieg den Trawler. Schon ein paar Stunden später wusste ich, dass ich einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. Die Jungs hatten nichts besseres vor, als sich direkt nach dem Ablegen vollaufen und alle Hoffnungen fahren zu lassen. Schon bald brach ein Streit zwischen ihnen aus (ich kam mir mal wieder vor wie in einem anderen Film), und irgendwann wurde einer der Typen von den anderen einfach über Bord geworfen. Da wusste ich, dass ich wohl besser die Klappe zu halten hatte. Auch, als der Trawler auf einmal kehrt machte und in die genau entgegengesetzte Richtung weiterschipperte, schwieg ich lieber. Und, verflucht seien diese Typen, als wir endlich nach fast zwei Wochen von Bord gehen konnten, war eins klar: dies war nicht Frankreich. Dieses gottverdammte Land war viel zu kalt und viel zu öde. Wir waren an der Westküste Norwegens gelandet! (Heute weiß ich, dass das im Grunde genommen ein riesiges Glück war, denn in Frankreich wäre ich vermutlich schon längst tot. Man munkelt, dass so ein paar durchgeknallte Generäle keine bessere Idee gehabt haben sollen, als eine elektromagnetische Bombe über Paris zu zünden, um alle elektrischen Systeme lahmzulegen. Na ja, das ist wohl geglückt, denn im Anschluss daran hat irgend so eine selbsternannte Sekte das allgemeine Chaos und die nicht mehr vorhandenen Zugangssicherungen genutzt, um sich selbst mit einer kleinen schmutzigen Atombombe ein kleines Denkmal zu setzen. Ist wohl jedenfalls eine ziemliche Sauerei da unten, und so schnell kriegt mich da keiner hin).

 

D

a stand ich nun, an der Küste Norwegens, mit nichts als einem Rucksack und einem vagen Plan: Wälder. Die gab es hier ja auch reichlich, also wieso nicht erst mal hier umgucken? Zumal ich ja nicht wirklich mobil war und es hier noch recht ruhig schien. Ich musste aber sehr bald feststellen, dass auch Norwegen von dem gleichen Phänomen betroffen war wie mein Heimatland. Überall irritierte Menschen und ein totaler Technikzusammenbruch. Außerdem merkte man sehr bald, dass man in den größeren Ansiedlungen nicht erwünscht war. Die Bewohner, die sich noch kannten, schlossen sich allem Anschein nach zusammen, da war man als offensichtlicher Fremder unerwünscht. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie ich einmal die Beine in die Hand nahm, als mir ein Anwohner das Klopfen an der Tür mit einem Warnschuss aus seiner Schrotflinte beantwortete.

 So, ich lege noch etwas Holz nach, es wird kalt heute nacht. Sie können sich  da hinten ein Nachtlager einrichten, ich habe noch etwas getrocknetes Moos, das isoliert sehr gut gegen die Kälte. Außerdem kann ich Ihnen dann noch in Ruhe meine Geschichte erzählen.

 Sie wollen sicher wissen, wie ich mich hierher durchgeschlagen habe. Und ich kann Ihnen sagen, das war verdammt noch mal nicht leicht. Ich musste mir möglichst schnell im Klaren darüber werden, wie ich mittelfristig mein Leben sichern konnte. Möglichst an einem Platz, wo nicht allzu viele Menschen hinflüchten würden. Aus früheren Erzählungen meiner weitgereisten Freunde wusste ich, dass es in den norwegischen Wäldern einen hohen Bestand an Wildtieren gab, außerdem jede Menge Wasser und, wie schon gesagt, einen hohen Vorrat an Holz. Nur war ich momentan noch weit entfernt von der Einsamkeit. In der Stadt lungerten jede Menge Menschen herum, die wie ich versuchten, ihr Überleben zu organisieren. Es kam ständig zu irgendwelchen gewalttätigen Auseinander-setzungen, man musste auf der Hut sein, dass die Einwohner ihre Angst und Wut nicht am Offensichtlichen ausließen. Was mir recht schnell klar wurde, war, dass ich eine Waffe brauchte, und die schnell. Doch ist das nicht so einfach, wenn man weder Geld hat noch eine Waffe, um Druck zu machen. Davon abgesehen, dass sich für Geld eigentlich sowieso keiner mehr interessierte. Da biss sich wirklich die Katze in den Schwanz. Doch ich hatte Glück: als ich mich in einer Seitenstraße versteckt hielt, stieß ich über ein besoffenes Bündel Mensch, das ich sofort durchsuchte. Er hatte eine Waffe, aber keine Patronen dazu. Aber das musste ja keiner wissen, dachte ich mir, steckte die Waffe ein und schlenderte weiter. Ich sage Ihnen, ich war kurz davor, mit der neuen Waffe meinen ersten eigenen Raubüberfall zu planen und hatte die Hosen gestrichen voll. Der Besoffene war ja kein Kunststück. Aber mit der gefundenen Waffe jemanden anderen um eine weitere Waffe samt passender Munition (so war mein Plan) zu erleichtern, das hatte schon etwas wirklich Anrüchiges an sich. Auf der anderen Seite wollte ich mein Glück nicht in die Hände einer leeren Mündung legen, und so begab ich mich auf die Suche nach einem einfachen Opfer. Wenn ich heute daran zurückdenke, so wird mir bewusst, dass ich zu dieser Zeit ein entscheidendes Stück meiner Zivilisation abgelegt hatte. Andererseits waren die Zeiten von Stil und Etikette wohl endgültig vorbei.

 

D

as Problem war nur, dass ich es verdammt noch mal nicht hingekriegt habe, mich irgendjemanden an die Fersen zu heften und ihn auszurauben. Entweder, die Person schied von vorneherein aus, weil ich selbst zu viel Angst oder zu viel Mitleid hatte. Oder ich fühlte mich nicht unbeobachtet. Am Ende des Tages stand ich da, ohne Munition, dafür aber mit Riesenhunger. Ich überlegte, ob ich nicht noch etwas aus meinem Rucksack zum Tauschen hatte, gegen Essen, Munition oder beides. Die Taschenlampe fiel mir ein. Die konnte ich eventuell eintauschen, zumal die Batterien ja noch praktisch neu waren. Na ja, langer Rede kurzer Schluss, ich musste noch mindestens zwanzig oder dreißig Leute anquatschen (was nicht einfach ist, wenn die Hälfte nur norwegisch spricht) bis ich endlich jemanden gefunden hatte, der bereit war, mir sowohl etwas passende Munition als auch einen Laib Brot abzugeben. Überglücklich verkroch ich mich in einer Ecke, begierig das Brot essend, und stolz, den ersten Tag als Wilder überlebt zu haben.

Ja, der Ausdruck passt gut. Wenn ich denke, wie schnell damals alles bergab ging. Nach außen hin waren die Spuren der Zivilisation ja noch bestens zu sehen, nur hinter den Fassaden funktionierte nichts mehr. Tote Städte ohne Strom, damals wurde mir bewusst, wie stark schon alles mit allem vernetzt war. Nichts funktionierte mehr, weil man für jeden Mist, von der Wasserpumpe bis zum Fahrstuhl, Strom brauchte. Dieser wurde in Kraftwerken erzeugt, die nicht mehr unter der Kontrolle der Menschen waren. Die automatisierten Umspannwerke funktionierten sowieso nicht mehr. Das Wissen um die Technik war ja noch in den Köpfen der Menschen, sie hatten nur keine Gelegenheit mehr, sich effektiv untereinander auszutauschen, da es ja keine funktionierenden Kommunikationssysteme mehr gab. Alles Chaos. Und die Menschen selbst: Horden von Idioten und Möchtegern-Rambos (manchen sah man direkt an, dass ihnen der dauernde Ausnahmezustand sichtlich Spaß machte), die selbsternannten Führern und Generälen hinterherliefen oder sich selbst zu welchen aufschwangen, das war der Rest der einstigen Staatsmacht. Ob es wohl überall auf der Welt jetzt so aussah? In, sagen wir, Bhutan z.B., am Ende der Welt? Sehr wahrscheinlich waren die einst rückständigsten Länder jetzt im Vorteil, weil sie nicht angewiesen waren auf die Netze. Vielleicht war der Teil der Erde aber auch schon verseucht, weil irgend ein Vollidiot in Indien einen Angriff Pakistans hinter dem ganzen Schlamassel witterte und deshalb eine Atombombe ins Nachbarland geworfen hatte? Spekulationen.

 Dass meine Aussteigerfantasien, denen ich zu meiner Zeit in L. nachhing, so schnell und so unumgänglich wahr werden sollten, hatte ich mir niemals träumen lassen. Jetzt musste ich beweisen, ob ich ein verweichlichter Stadtmensch war oder wirklich das Zeug dazu hatte, ohne fremde Hilfe zu überleben. Meine Überlegungen kristallisierten sich in diesen Tagen immer deutlicher heraus: Kurzfristig mochten die Reste der Städte ein geeigneter Zufluchtsort sein, langfristig bot sich hier jedoch kaum eine Chance, Lebensmittel zu generieren. Außerdem wollten die meisten Leute in den Städten bleiben, so mein Kalkül, weil sie sich nicht so leicht von den einstigen Errungenschaften trennen konnten (die tickten irgendwie alle wie meine Ex-Frau). Es würde also zu massiven Verteilungskämpfen um die wenigen Rohstoffe kommen, und ich hatte keine Lust, den Löffel wegen einer Lappalie abzugeben oder von einem selbsternannten General und seiner Meute niedergestochen zu werden. Mein Vertrauen in die Friedfertigkeiten meiner Mitmenschen war nicht allzu sehr ausgeprägt. In der Natur hingegen könnte ich mir eventuell meinen eigenen kleinen Versorgungskreislauf einrichten. Jagen und Fischen traute ich mir zu, und die einen oder anderen Sachen könnte man eventuell auch mit Gleichgesinnten tauschen. Eine Hütte aus Holz bauen und offenes Feuer: das war doch eigentlich sowieso ein Männertraum! Ja, das war mein Plan: zurück zur Natur, zurück in die Versorgungskreisläufe des Mittelalters. Bei denen hatte das ja auch mehr oder weniger geklappt. Dann ein paar Jahre warten, und man würde weitersehen. Vorrausgesetzt, ich würde nicht ernsthaft krank werden.

 

M

it diesem Plan im Kopf beschloß ich, mich Richtung Norden aufzumachen. Ich lief insgesamt 20 oder 25 Tage, bis ich hier in dieser Gegend ankam. Unterwegs habe ich viele Menschen getroffen, die meisten kamen mir entgegen, aber einige suchten ihr Glück genau wie ich in der Einsamkeit. Mit dem einen oder anderen freundete ich mich an – die Leute, die in meine Richtung gingen, hatten ja schließlich ähnliche Vorstellungen von ihrer Zukunft wie ich. Und außerdem gab es ja nun wirklich genug Gesprächsstoff: was war überhaupt passiert? Wie konnte es weitergehen? Wo war die Regierung? Gab es überhaupt noch eine Regierung (oder hockten die Schwachköpfe mit ihren Gespielinnen und Notvorräten irgendwo in einem Bunker tief unter der Erde und trauten sich nicht raus? In gewisser Weise tröstlich war bei so einer Vorstellung der Gedanke, dass die Assimilation sicherlich nicht vor den Sicherheits-einrichtungen der Bunker haltgemacht hatte, demnach unsere ehemalige politische Regierung entweder gar nicht erst da reingekommen war oder aber nie mehr rauskommen würde).

 Jedenfalls kamen ich und ein paar andere nach langen Strapazen an diesen Platz hier. Wir wussten sofort, dass dies hier ein geeignetes Fleckchen zum Überleben sein würde: in der Nähe einer alten Fernstraße, Wald soweit das Auge reicht, außerdem eine große Seenlandschaft. Es gab jede Menge Wild, sonst aber kaum Spuren der Zivilisation. Der Winter würde sicherlich hart werden, aber das war machbar, wenn wir es schafften, rechtzeitig Hütten zu bauen.

 Was sind das für Geräusche im Wald? Behalten Sie die Axt immer in ihrer Griffweite, treuer Freund; Sie wissen in diesen Zeiten erst, dass sie die Nacht überlebt haben, wenn Sie die Sonne aufsteigen sehen.

 Also, die Hütten. In meiner Fantasie reichten dafür ein paar starke Männerhände, ein paar Kumpels und ein zünftiges Lagerfeuer (und vielleicht noch eine Frau, die anerkennend daneben stand). So was sollte man doch in einer Woche hinkriegen. Am Ende hat es geschlagene fünf Wochen gedauert, bis meine Hütte stand, und noch heute helfe ich Neuankömmlingen beim Bau ihrer Hütten. Die Probleme waren mannigfaltig: erst mussten wir mal eine Axt organisieren. Die wurde ziemlich schnell ziemlich stumpf. Die eigene Kraft verließ einen schnell, da wir am Anfang in Erdlöchern und unter freiem Himmel schlafen mussten. Da wir in der Jagd nicht geübt waren (diese Tiere laufen schneller als Kugeln fliegen, hat man den Eindruck), hatten wir anfangs nie genug zu Essen. Es war eine echt harte Zeit. Vom Feuermachen will ich gar nicht reden. Als das letzte Feuerzeug auszugehen drohte, fiel uns nichts Besseres ein, als ein großes Lagerfeuer unter ständiger Bewachung (quasi ein „Dorffeuer“) anzuzünden. Das Feuer brennt noch heute. Ja, wir, das waren am Anfag ungefähr zwanzig Männer und 5 Frauen, jetzt sind wir so um die vierzig Personen hier. Nicht alle haben es geschafft, sich so wie wir zu organisieren. Manche hausen einfach nur in irgendwelchen Erdlöchern im Wald und rotten sich zusammen, um immer wieder unser Dorf zu überfallen. Ich selbst entferne mich nicht mehr alleine von unserem Dorf, es sind schon genug Leute nicht mehr ---

 Da, ich kann durch den Türspalt sehen, wie einige Gestalten auf die Lichtung treten. Das sieht nicht gut aus, treuer Freund. Aber, was ist denn das? Da kommen ja immer mehr, so viele waren es noch nie! O Gott, steh uns bei, jetzt beginnen sie auf unsere Siedlung zuzurennen. Jetzt geht es los, das ist ja furchtbar, sie stecken alles in Brand. Herr, steh uns bei, sie kommen geradewegs auf unsere Hütte zu, machen Sie sich bereit, treuer Freund, und kämpfen Sie um ihr Leben!

  

 

E

wachte schweißgebadet auf. Völlig verstört suchte er nach dem Lichtschalter und knipste das Licht an. Langsam kamen ihm seine Sinne zurück: Alles war nur ein furchtbarer Traum gewesen. Er lag friedlich in seinem Hotelzimmer in W., auf einer Geschäftsreise, und draußen brummte der Verkehr durch die Fenster. Er setzte sich auf, um die letzten Reste dieses eigenartigen Traums von sich zu schütteln. Die Uhr zeigte auf viertel nach fünf.

 E. ging ins Bad und tauchte sein Gesicht unter einen Strahl kalten fließenden Wassers. Er nahm sich ein Glas, füllte es mit Wasser und trank in gierigen Zügen. Dann füllte er nach und ging mit dem Glas Wasser in der Hand zurück. Er dachte an seine wunderbare Freundin, und das setzte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Beruhigt nahm er sein Handy und wählte die Telefonnummer seiner Freundin. Die Leitung war tot.

  

Oktober – Dezember 2002 © Severin Faust

Home